Georg Frey: Ostfriesischer Totentanz
Der Band umfasst 14 Erzählungen von Georg Frey zur Anwesenheit des Todes im Leben. Selbst dort, wo sie phantastisch sind, erwachsen sie aus der Wirklichkeit unserer Zeit. Sie sind ohne die besondere Aura der ostfriesischen Kultur und Natur nicht zu denken.
Sie gehen von lokalen Erscheinungen aus (Grabplatten, Mahnmale, Straßenrandkreuze, Wattleichen...), um von Menschen und ihrem Umgang mit dem Tod zu erzählen.
Die Fotografien von Bernhard Frey zeigen diese Orte in ihrer besonderen Atmosphäre.
Wie im traditionellen Totentanz ist der Tod selbstverständlich und unerbittlich, faszinierend und anziehend.
edition sanderling, Norden 2018 - Druck und Bindung: Buchwerkstatt Hage - Umschlaggestaltung: Lukas Frey
104 Seiten, 20,5 x 22 cm, Hardcover mit Leseband und Karte
19,80 € (davon 3 € für den Förderverein Stationäres Hospiz Norden)
ISBN 978-3-9819396-0-6
Die Anfangssätze der 14 Erzählungen:
Radbod und seine Krieger
Wenn sie an der Kirche vorbei waren, war es nicht mehr weit bis zum Radbodsberg, schon gar nicht mit den Rädern. Zu sechst fuhren sie Arm in Arm nebeneinander her, nutzten die ganze Breite des asphaltierten Weges. Sie fuhren absichtlich langsam, sangen und taten so, als ob sie nichts hörten. Wer im Vorackerweg wohnte und nach Hause wollte, musste hinter den Jungen und Mädchen herfahren...
Das Schild am Deich
Ich kann Ihnen die Stelle am Deich zeigen, wenn Sie wollen. Adrian ist an dem Samstagmorgen früh mit mir hingefahren. Mein Freund ist Fotograf. Nein, nicht von Beruf. Er fotografiert gern und viel. Nicht wie alle: er macht keine Bilder wie: Birgit, Kati und Vera im Bikini lachen am Strand; Peter und Jan in Siegerpose vorm Eiffelturm; Roger (die Katze) verheddert sich im Wollknäuel und so. Er macht Fotos mit Anspruch, künstlerischem. Das ärgert ihn, wenn ich das sage...
Nachts ins Watt
Im zweiten Stock der Mühle ist alles ruhig. Die Ausstellungsstücke sind in den Vitrinen, die Informationstafeln an den dunklen Wänden. Die Knochen der drei Wattleichen liegen ordentlich ausgebreitet in den Glaskästen, der Hund, der Säugling, die Frau. Als wäre sie ein Gespenst, steht die Frau um Mitternacht auf. Sie hat die richtige Nacht abgewartet, die richtige Mondphase, den richtigen Stand und die richtige Helligkeit des Mondes...
Zenon Stebner
Der Raum der Ostfriesischen Landschaft füllte sich schon lange vor Beginn der Vorführung. Da der Raum breiter ist als tief und durch zwei Säulen in drei Sichträume geteilt ist, waren drei große Leinwände nebeneinander an der hinteren Wand des Raumes angebracht und die Stuhlreihen in drei Gruppen aufgestellt worden, und zwar derart, dass jeder freie Sicht auf zumindest eine Leinwand hatte. Auf jeder Leinwand war dasselbe Standbild zu sehen, über das der Titel des Vortrags eingeblendet war. Das Bild zeigte Soldaten, die, so schien es, auf einem schier unendlichen Vormarsch eine unerwartete und umso glücklicher empfundene Rast einlegen dürfen...
Im Vorraum der Friedhofskapelle
Die Erinnerung an den Vorraum der Friedhofskapelle ließ mich nicht los. Bestimmt war es schon drei, vier Jahre her, dass ich dort gewesen war. Eine der Runden, die ich gewohnheitsmäßig mit dem Rad zurücklege, führt durch den kleinen Ort mit seiner großen Kirche, die für die Einwohnerschaft einer dreimal so großen Gemeinde ausgelegt zu sein schien...
Marlies und das Straßenrandkreuz
Marlies, eine Frau, deren Schönheit sich nicht auf den ersten Blick offenbart, war, von der kleinen Stadt kommend, rechts auf die Kreisstraße abgebogen, der sie durch das Dorf folgte. Linkerhand wies ein Transparent auf das abendliche Grillen im Dorfgemeinschaftshaus hin. Das Ortsschild gab die Entfernung zum nächsten Dorf an, ungefähr drei Kilometer. Soweit musste Marlies nicht, trotzdem beschleunigte sie kräftig...
Die Maus
Herbert Gentzsch: Die Maus (Fotografie: G.F.)
Nach einer meiner Niederlagen komme ich auf der Insel an. Dort nehme ich nicht die Inselbahn, sondern gehe vom Fähranleger aus erst östlich auf der Hafendeichstraße am Yachthafen vorbei, wie er etwas hochtrabend heißt. Rasch erreiche ich die Abzweigung, wo ich in die von den Hafenanlagen in nördliche Richtung zum Ort führende Hafenstraße abbiege...
Der Wal
Fotografie: Josef Wegener
Wir waren sehr aufgeregt, als wir losfuhren. Pia sagte zu Christian, du musst dich dran gewöhnen, dass Frauen fahren, also fuhr sie. Christian saß neben ihr und ich hatte mich auf die Rückbank verdrückt, ich hasse es, Beifahrerin zu sein, besonders bei Pia. Eigentlich sollten nur zwei Mitarbeiter des Tierpathologischen Instituts fahren dürfen. Christian und ich hatten uns als erste gemeldet. Ich weiß nicht, wie Pia es geschafft hat, dass sie doch dabei war.
Ripperda, Tod ist da
Nach all der Mühe mit den Anträgen, in denen ich mit falschen Versprechungen, um nicht Lügen zu sagen, die Bewilligung der Drittmittel für das neue kulturgeschichtliche Forschungsprojekt erreicht hatte, war ich zu einem Kurzurlaub auf eine der ostfriesischen Inseln aufgebrochen. Dort würde mir der Wind ordentlich den Kopf freipusten.
Die blauen Bücher
Fotografie: G.F.
Es war Nachmittag, die Sonne schien mit der erwachten Kraft des Aprils. Die zwei blauen Bücher standen auf dem Fensterbrett des rechten Sprossenfensters auf der Westseite des Raumes, dessen drei andere Wände beherrscht wurden von riesigen, eng nebeneinander gehängten Bildern von Totenschädeln. Die Bücher waren rechts und links an den Mauern der Fensternische schräg aufgestellt, als wären es zwei Bibeln auf einem Altar...
Zum Wasserturm
Nicht mehr zögern. Der Tag des Denkmals wäre ein guter Tag, dachte ich. Denk mal! fiel mir ein, das abgeschmackte Wortspiel einer Werbeagentur. Brauchen würde ich ihn nicht mehr, aber ich packte meinen kleinen Rucksack: Wasserflasche, Notizbuch, Banane. Ich schloss die Wohnungstür ab und dachte: es ist, als wanderte ich die Stadt hinaus...
Leever dod as slav
Als sie gefragt wurden, wandten sie sich einander zu und schauten sich hilfesuchend an. Es schien ihnen absurd. Müssten sich nicht die anderen die Fragen stellen, die nicht wie sie fühlten, dachten und handelten?...
Engelke
Durch die Einkaufsstraße der Stadt an der Küste, durch die ich ging wie viele andere auch an diesem Vormittag der Adventszeit, kann ich nicht gehen, ohne an das Foto in den Geschichtsbüchern zu denken, auf dem zu sehen ist, wie sechs, sieben uniformierte Männer eine Frau durch diese Straße führen. Nicht führen, vorführen...
Die drei Schiffe
Die drei Schiffe liegen im Westhafen. Im Sommer parken dort Männer ihre Fahrzeuge parken. Auf dem Vorgelände lassen sie Drachen steigen. Nicht wie früher selbst gebaute rautenförmige Gebilde aus schmalen Holzleisten, Drachenpapier und Drachenschnur mit einem lustigen Schwanz, einer Kordel, in die eingebunden kleine gelbe, rote, grüne, blaue Schleifen um die Wette flattern...